OBDACHLOS

Wenn die Straße zu kalt ist

Kein Dach über dem Kopf, draußen bei Kälte. Für Menschen, die ohne festen Wohnsitz in unserer Nachbarschaft leben, ist der Winter eine Zeit, in der es - mehr noch als sonst - ums Überleben geht. Begegnungen in Prenzlauer Berg.

 

Es ist eine dieser Begegnungen mit einem obdachlosen Menschen, wie wir sie - so oder ähnlich - wohl alle schon einmal erlebt haben. Eines Abends im Dezember, ein undefinierbares Geräusch auf dem Treppenabsatz oben, unterm Dach. Immer wieder geht das Licht an. Dann klingelt es an der obersten Wohnungstür. Ein spürbar verwirrter Mensch fragt, ob er diese Nacht im Treppenhaus verbringen dürfe. Auf einem Bett aus Pappkartons. Er störe auch nicht, nur ab und an würde er gern eine Zigarette rauchen auf seinem Lager aus Pappe. Dann folgt eine schwer zu entwirrende Erzählung: Er sei neu in Berlin und kenne sich nicht aus. Gestern war er noch im Krankenhaus, aber da habe er es nicht ausgehalten. 

Die Frau, die diese Geschichte erzählt, lebt in einem typischen Prenzlauer-Berg-Haus mittendrin im Wins-Kiez. Zehn Familien leben im Haus, fast alle haben Kinder. Zigarette rauchen in diesem Zustand, umgeben von leicht entflammbarer Pappe? 

Obdachlos Berlin Prenzlauer Berg
Obdachlose gehören in Prenzlauer Berg zum Alltag.

WELCHE HILFE IST RICHTIG?

Die Frau geht mit unter das Dach, schaut sich das Lager an. Hört wieder die Geschichte des Mannes, er sei aus dem Krankenhaus abgehauen. Kann nicht einschätzen, in welchem Gesundheits- oder Krankheitszustand er sich befindet. Sie schlägt ihm vor, doch lieber in die Obdachlosenunterkunft zu gehen. Dort habe er ein richtiges Bett, könne duschen und auf die Toilette gehen. Bekäme auch ein Frühstück. Der Mann lehnt ab, er kenne sich in Berlin nicht aus. Wie solle er die Unterkunft finden? Die Frau bietet ihm an, ihn zu begleiten. 

Eine Weile tauschen sie ihre Argumente aus. Die Frau sagt schließlich: „Wir haben Kinder im Haus und ich habe Angst, dass sie mit brennender Zigarette einschlafen und die Pappe Feuer fängt.“ Der Mann willigt nun ein. Gemeinsam gehen sie die Treppe hinunter. Ihnen entgegen kommen zwei Polizisten. Offensichtlich hat jemand der anderen Hausbewohner sie verständigt. Sie nehmen den Mann in Empfang und versichern, ihn in die Obdachlosenunterkunft zu bringen. Der Mann folgt ihnen.

Die Frau geht zurück in ihre Wohnung. Ein ungutes Gefühl bleibt. Hat sie das richtige getan? Warum hat sie dem Mann nicht etwas zu essen und zu trinken angeboten? „Er hat Dich nicht darum gebeten.“, sagt eine Freundin, der sie das Erlebte erzählt.

Obdachlos Berlin Prenzlauer Berg
Ein halbwegs geschützter Platz im U-Bahnhof.

GRUNDRECHT AUF WOHNEN

In diesen Winterwochen und -monaten – und bei Redaktionsschluss dieser „Prenzlberger Ansichten“-Ausgabe herrschen schon seit Tagen Minusgrade – stehen obdachlose Menschen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mehr als 8.000 Menschen vieler Nationalitäten sollen es in Berlin inzwischen sein. Tendenz steigend. Von Prenzlauer Berg gibt es keine genauen Zahlen. Es gibt die Auskunft des strassenfeger-Vereins, dass vor seiner Notunterkunft in der Storkower Straße die Menschen Schlange stehen und abgewiesen werden müssen, weil die 31 Schlafplätze nicht reichen. Dann erhalten die Abgewiesenen zumindest einen Schlafsack. 

Vom ersten Kältetoten in Berlin ist Ende Januar die Rede. Vor dem Roten Rathaus demonstrieren Wohnungslose und Mieter-Initiativen im Freien für ein Grundrecht auf Wohnen. Auf einmal sind sie wieder sichtbar, die Menschen ohne festen Wohnsitz, die in unserer Nachbarschaft leben. An Verkäufer von Zeitungen; an schlafende Menschen auf Parkbänken; an Ansammlungen von Kleidung und Hausrat in Einkaufskörben, an Flaschensammler haben wir uns in üblichen Zeiten gewöhnt – sehen möglicherweise über sie hinweg oder bringen leere Flaschen zu ihnen, kaufen eine Zeitung, spenden etwas. Der Winter ist keine übliche Zeit unter freiem Himmel.  

Die Berliner Kältehilfe vermeldet, dass trotz der Minusgrade nachts Plätze in Berliner Notunterkünften frei bleiben. Obdachlose meiden sie, sagt ein einstiger Obdachloser und jetziger Streetworker, weil der Zustand der Räume und der Mit-Schlafenden teilweise katastrophal sei. Geschrei in großen Sälen, volltrunkene Menschen, Matratzen im Zentimeter-Abstand, Kommen und Gehen in der Nacht halten viele nicht aus.

Obdachlos Berlin Prenzlauer Berg
Draußen bei Kälte: Straßenszene von Ende Januar 2019. Fotos (3): al

EINFACH NUR WASSER

Eine andere Begegnung. Nicht aus der Winterkälte, aus dem zurückliegenden Hitzesommer. Auf einer Freifläche in der prallen Sonne an der Prenzlauer Allee schläft ein offensichtlich betrunkener Mann. Es ist nicht klar, wie lange er dort schon liegt und ob er von der Hitze etwas mitbekommt. Ein Mann, der in einem Supermarkt vis a vis einkauft, beobachtet den schlafenden Mann eine Weile. Dann kauft er ein Pack Wasserflaschen, weckt den Schlafenden und gibt ihm in barschem Ton zu verstehen, er solle sich lieber in den Schatten legen und bei der Hitze Wasser trinken. Der Mann bedankt sich und befolgt den Rat. Der andere geht zurück und sagt zu denen, die die Szene beobachtet haben: „So einfach ist das.“

-al-,  Feb. 2019 

 

Was ist zu tun, wenn die Kälte weiterhin anhält?

Die Berliner Kältehilfe, die von Anfang November bis Ende März mit einem Kältebus unterwegs ist, bittet: Wer einen obdachlosen Menschen nachts unter freiem Himmel antrifft, sollte ihn ansprechen und fragen, ob er in eine Unterkunft möchte und dann den Kältebus rufen, Tel. 0178 523 58 38 oder den Wärmebus des Deutschen Roten Kreuzes, Tel. 0170 910 00 42. Im Notfall oder bei akuter Gefährdung gelten die Notrufnummern: 110 bzw. 112.

Auf www.kaeltehilfe-berlin.de sind Anbieter von Obdachlosen-Unterkünften und weitere Anlaufstellen zu finden.