PRENZLAUER BERG IM HERBST 89 (1)
25 Jahre ist das jetzt schon her. Ein Drittel Lebenszeit. Vor 25 Jahren erhoben sich in der DDR die Menschen, standen auf, in einem Freiheitsdrang, der nicht mehr zu unterdrücken war. Immer
lauter werdend im ganzen Land, weit früher schon im Stillen in Prenzlauer Berg. Wie war das eigentlich, damals, im Herbst 1989?
Wie war das damals? Auf diese Frage gibt es knapp 17 Millionen unterschiedliche Antworten, weil jeder der knapp 17 Millionen DDR-Bürger diesen Herbst anders erlebte. Die offiziellen Antworten,
die der Historiker, Forscher, politischen Entscheidungsträger nicht mitgezählt.
Die Rolle des Prenzlauer Berges als ein Zentrum und Nährboden der friedlichen Revolution ist unbestritten. Hier lebten aufmüpfige Künstler und Bürgerrechtler, hier wurde im Kreis der Kirchen über
eine andere DDR diskutiert und an Themen wie Menschenrechten und Umweltschutz gearbeitet. Hier trafen sich oppositionelle Gruppen wie das Neue Forum, deren Protagonisten später die Geschicke des
vereinten Deutschlands mitbestimmen sollten. Die Gethsemanekirche war in den unruhigen, gefährlichen Herbst-Monaten Zentrum des zivilen Ungehorsams. Und auf der Bornholmer Brücke schließlich fiel
am 9. November die Mauer. Unvergessen die Bilder des diensthabenden Grenzsoldaten, der die Tore einfach aufmachte, weil sich die Menschen davor drängten und die obersten Befehlshaber für Anfragen
telefonisch nicht zu erreichen waren. So klein ist manchmal große Geschichte.
Vor diese bewegenden Bilder schieben sich andere, nur wenige Wochen zuvor. Bilder von prügelnden Polizisten in Uniform und Mitarbeitern der Staatssicherheit in Zivil, die mit Schlagstöcken auf
ihr Volk losgehen.
An dieses Volk, an die Einwohner von Prenzlauer Berg, geht die Frage: Wie war das damals? Was lässt sich erzählen über jene Zeit, über die eigene Stimmung mitten aus und doch abseits der großen
historischen Momente? „Unfassbar“ beginnt eine der 17 Millionen Antworten. Unfassbar war die Brutalität, an die sich Thomas Rohloff erinnert. Er war einer der Demonstranten vor der
Gethsemanekirche, auf die die Staatsschützer mit Schlagstöcken losgingen. Er war gekommen wie so viele, die es nicht mehr zu Hause hielt, nicht mehr in der Starre des vermeintlichen Arbeiter- und
Bauern-Staates, dem die Menschen scharenweise davonliefen und der zu seinem 40. Staatsgeburtstag unverdrossen den Sieg des Sozialismus feierte.
Die Atmosphäre jener Abende sei „nicht zu beschreiben“. Vielleicht am ehesten mit einer Mischung aus Hoffnung, Ermutigung, der Stärke, die aus Gemeinsamkeit entsteht und – Angst. Vom „aufrechten
Gang“ ist später die Rede gewesen, und jeder, der in die Ungewissheit dieser Anfangs-Demonstrationen ging, praktizierte ihn.
19 war Thomas Rohloff damals, die Lehre als Installateur hatte er abgeschlossen, der Vater führte eine private Druckerei im Wins-Viertel. „Für mich war in den Westen wegzugehen kein Thema, ich
bin hier aufgewachsen, meine Familie lebte hier.“
Also hingehen. Er ging mit zwei Freunden zur Gethsemanekirche. Hier gab es seit Anfang Oktober Mahnwachen für die politischen Inhaftierten, brannten Kerzen als Symbole des friedlichen
Widerstands. Auch an jenem Abend, am 7. Oktober. Die Kirche, in der der Pfarrer Worte für die Wunden des Landes fand, brechend voll. In den Seitenstraßen drumherum Polizisten vor und in ihren
geparkten Fahrzeugen.
Von den Worten des Pfarrers war draußen nichts zu verstehen, also zog der kurzerhand um, unter die U-Bahn-Brücke auf der Schönhauser Allee. Die Tausenden Demonstranten mit ihm. Alte, Junge,
Kinder. Zustimmende Sprechchöre auf des Pfarrers Worte, Rufe „Wir sind das Volk“.
Und irgendwann drehten sich einige dieser Demonstranten um, zogen ihre Schlagstöcke aus den Jacken und begannen draufloszuschlagen, auf jene, mit denen sie sich eben noch gemein gemacht hatten.
Einfach so. Sie trieben die in Panik Fliehenden vor sich her, prügelten auf weinende Kinder, auf am Boden Liegende. Die Menschen rannten, manche schafften es zurück in die Kirche, wo sie
stundenlang ausharrten. Die anderen draußen wurden eingekesselt. Aus den Seitenstraßen kamen nun die Polizisten, bildeten eine undurchdringbare Kette.
Wohin jetzt? Wie andere, suchten auch Rohloff und seine Freunde einen Ausweg vor den prügelnden Stasi-Leuten und den näher kommenden Polizisten. Über einen Hinterhof gelang ihnen schließlich die
Flucht auf die S-Bahn-Gleise und weiter auf den S-Bahnhof Schönhauser Allee. Atemlos, die Angst tatsächlich im Nacken. Der S-Bahnhof war leer, keine Polizei hier, keine Stasi. Sie waren in
Sicherheit.
Einen Tag später wagten sie sich wieder in die Stargarder Straße, holten ihr zurückgelassenes Moped ab. Da hatte sich die Gethsemanekirche schon zum Nachrichtenzentrum entwickelt, gingen die
Demonstranten und Bürgerrechtler und ausländische Journalisten ein und aus. In den offiziellen DDR-Medien stand von den Vorkommnissen des Vorabends kein Wort. Nichts von den Prügeleien, von
Verletzten, von Verhaftungen und Misshandlungen. Dafür Jubelworte für die Staatsfeiern, die am gleichen Abend zum Republik-Geburtstag stattgefunden hatten, Michael Gorbatschow an der Seite von
Staats- und Parteichef Erich Honecker.
Elf Tage später trat Honecker von seinen Ämtern zurück. Am 7. November dann Stasi-Chef Erich Mielke, der seine Leute hatte auf die Demonstranten einprügeln lassen, mit den Worten: „Ich liebe doch
alle Menschen.“
Katharina Fial (Sep 2014)
Wende-Ort: Die Gethsemanekirche
Seit Mitte der 80er Jahre arbeiteten unter dem Dach der Gemeinde verschiedene oppositionelle Gruppen wie ein Friedenskreis, eine Lesbengruppe und eine Arbeitskreis für das
Staatsbürgerschaftsrecht der DDR.
Während der friedlichen Revolution im Herbst 1989 spielte die Kirche eine wichtige Rolle als Ort von Widerstand und Informationsbörse. Hier fanden Mahnwachen für die Freilassung der politisch
Inhaftierten in der DDR statt, hier trafen sich Prenzlauer Berger und Berliner zur Andacht und zu Demonstrationen gegen das Regime.
Am 7. Oktober 1989 wurden Demonstranten in der Nähe der Kirche von bewaffneten Sicherheitskräften eingekesselt und zusammengeschlagen. Viele wurden verhaftet und in der Haft misshandelt.
Die Kirche wurde in den darauffolgenden Tagen zur Nachrichtenzentrale für Angehörige Inhaftierter, für Augenzeugen und für ausländische Journalisten. Über ein Kontakttelefon war sie mit
oppositionellen Gruppen aus dem ganzen Land verbunden.