Menschen und Kneipen im Winskiez, Folge 6
Welch' ein Missverständnis! Ein treuer Leser ruft in der Redaktion an: „Die Winsstraße hört doch nicht an der Marienburger Straße auf!!!“ Recht hat er! Nicht nur „Hinterm Horizont geht's
weiter ...“, sondern auch die 840 Meter lange Winsstraße (persönlich nachgemessen!) - Es ist „Halbzeit“ bei unserer Wins-Serie und diesmal geht es um die Mitte des Winskiezes: Ich berichte von
„Ureinwohnern“, die im Winskiez geboren sind, von den Zugezogenen zwischen 1980-2000 und den „Kneipen-, Land- und Wohnungsnehmern“ der letzten 10 Jahre.
Tom K. verließ den Kiez und die DDR 1988, um 1990 wiederzukommen. Unter seiner handfesten Mitwirkung entstand im Winskiez die erste Bar: „Fiasko“, später in „Winsenz“ umbenannt. Der Rückkehrer
Tom zog ein paar Häuser weiter und erfand mit seinem Partner das „Tomsky“ - früher eine Fleischerei. Tom baute um und baute auf; sein Kompagnon führte die Bücher - bis die Bar so verwaltet war,
dass Tom noch heute dafür blutet ... Zwischen Marien- und Christburger Straße gab es vor den revolutionären Veränderungen 1989/90 drei gastronomische Zentren: Die Eckkneipen „Zur Eule“ und „Busse
& Braun“ und dazwischen „Zum Kiez“ - genannt „Kiezke“ - keine davon gibt es noch!
Leo Marun wohnt seit 1989 mitten in der Winsstraße und kennt sie alle: „Jede dieser Gaststätten hatte sein eigenes Publikum: Bei „Busse & Braun“ waren eher die „Normalen“ zu finden, bei
„Kiezke“ trafen sich vormittags die Rentner und abends eher schlichte Gesellen – ein komisches Publikum, so'n Treffpunkt der Ärmsten. Auch für sie wurden einfache, aber reichliche und
preiswerte Speisen angeboten. Schräg gegenüber, die Eckkneipe Winsstraße/ Christburger Straße, wurde von zwei betagten Damen, Frau Strauß und Frau Fröhlich, geführt. Sie hatten zentral hinter
der Theke eine große Schiefertafel installiert – dort wurden die Namen der Schuldner und die Summe der Schulden erst an- und dann öffentlich aufgeschrieben. So waren jeder Gast über seinen
Kontostand auf dem Laufenden …!“Die ehemaligen Berufsboxer „Busse & Braun“ haben dann die Kneipe übernommen und Leo erinnert sich gut und gern an den Sonnabend-Frühschoppen, die leckere
Salamiplatte und den feuerscharfen Fleischsalat – zubereitet von den Ehefrauen der Betreiber. „Außerdem waren die Kneipen ja auch Tausch- und Handelsorte. Da hast du alles gekriegt, was in Läden
selten zu bekommen war: frischen Spargel, Schukosteckdosen und andere Spezialitäten! Es war auch das einzige Lokal weit und breit, das freitags bis 3 Uhr nachts geöffnet hatte; doch es wurden
immer nur so viele Gäste reingelassen wie vorher rausgegangen waren - es war brechend voll!“
Im August 1977 erblickt Christian Mulzof das Licht der Welt: „Ich bin in der Winsstraße 31 geboren und groß geworden zwischen der 5. Grundschule, der Christburger Straße, dem Bolzplatz „Jabbel“
und dem Kinderclub in der Jablonskistraße 26 – den ham’se uns in der Wendezeit geklaut!“Als 7-jähriger wird Christian beim Überqueren der Prenzlauer Allee/Ecke Wörther Straße von einem LKW „W
50“ der Nationalen Volksarmee (NVA) überfahren. Ein Bein muss amputiert werden, der Schädelbasisbruch und die schwer beschädigte Wirbelsäule ziehen lange Krankenhausaufenthalte nach
sich.Schulwechsel, eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten und Isolation von Spielkameraden sind weitere Folgen des Unfalls. Nun hockt er zu Hause, während andere Kinder draußen spielen. Doch
einmal im Monat gibt es Abwechslung: Die Mutter lässt die Küche kalt und die vielköpfige Familie begibt sich zum Eisbeinessen in die HO-Kneipe „Zur Eule“: „Das waren noch Preise zu DDR-Zeiten –
die „Molle mit Korn“ kostete 1 Mark, Brause nur 30 Pfennig. Und Eisbein mit Kartoffeln, Sauerkraut und Erbspüree nur 1,80 Mark!“Jahre später. Der behinderte Mulzof ist ins Wende-Loch gefallen:
Keine Ausbildung, keine Förderung, keine Perspektive. Doch was fällt dem lebenslustigen jungen Mann ein? Er macht sich selbstständig als „Trödel-Max“, vertickt vor KAISERS alles – von der
Mickymausfigur bis zu hochwertiger Haushaltselektronik. Und wird auf diese Weise ein Unikat im Winskiez.
Fast 10 Jahre war Jörg G. der gute Geist, die liebe Seele und das pulsierende Herz in der „Eule“. Er bilanziert so: „Ich habe mich mit den Gästen immer gut unterhalten und blendend verstanden. Es
hat mir Spaß gemacht, für meine Kunden zu arbeiten. Fünf Jahre lang war ich der „Eisbeinkönig“ – es hat allen immer geschmeckt und mehr als einmal war nicht genug für alle da ...“ Jörg frönt
einem sehr spezielles Hobby: Er sammelt seit Ewigkeiten Kugelschreiber aller Art – gleich, ob sie schreiben oder nicht – inzwischen sind es mehr als 2000 Exemplare! Immer, wenn ich eine kleine
Sammlung zusammenhatte, gab ich sie dem Jörg. Der ruhige und freundliche Sammler stellte mir dafür ein Bier vor die Nase … Ein neuer Gastwirt - von allen nur „Atila“ genannt – kommt auf die
wahnwitzige Idee, den angestammten Namen in „Winseck“ zu verändern. Da hat er die Rechnung ohne die Stammkunden gemacht – sie bleiben weg. Nach wenigen Wochen hat ihr widerständiger
Konsumverzicht Erfolg: Aus der „Eule“ wird die „Neue Eule“!
Zu den Stammgästen gehörten auch Christel und Andreas „Andy“ Lorf; seit 1972 im Kiez beheimatet. Ich treffe sie an der „Eule“, die sich seit einem Jahr „lalaloli“ nennt und jetzt eine BAR sein
will. „Die „Eule“ war DIE zentrale Kneipe in der Marienburger Straße mit Marmortischen und Kerzenbeleuchtung“, erinnert sich Andy. Christel ergänzt: „Hier haben wir uns immer mittwochs mit
unseren Freunden und Nachbarn getroffen; Andy war beim Preisskat dabei und wir hatten hier unsere Lottorunde - über 12 Jahre lang!“ – „Schade“, bemerkt Christel, „einige sind weggezogen, andere
sind nicht mehr so beweglich. Und gestorben sind auch welche, wie unser bester Freund, der Reinhold.“
Zu Beginn der 1990er Jahre fand Reinhold K. eine Zuflucht im Winskiez - also ein „Hinzugekommener“. Offenherzig und liebenswert, immer zu einem Schwatz bereit; dazu belesen, intelligent und
schon von Berufs wegen als Drucker an Geschichte interessiert. Freimütig erzählte er von seiner Heimat im Thüringischen, von seiner betagten Mutter, die noch dort lebte und von seinen
Unternehmungen mit Freunden quer durch Europa. Er war als Skatspieler ebenso beliebt wie gefürchtet; ein alter Fuchs, der alle Tricks und Schliche kannte – und sie zu seinem Vorteil zu
nutzen wusste. Über den Gewinn so manchen Preisskats freute er sich wie ein Kind; besonders wenn das eine Flasche „Brauner“ war. Ein gerüttelt Maß an Überredungskunst brauchte es, um ihn für
eine Runde Skat zu gewinnen: „Ich bin schon 'ne Weile unterwegs und muss nach Hause; nee, nee, heute nicht ...“ – „Ach, komm, Reinhold, nur e i n e Runde - ich zahl' dir auch 'n
Bier!“. Schnell war sein Widerstand dahin und es wurde für alle Mitspieler ein lustiger, lehrreicher Abend. Ich werde nie vergessen, wie der beste Skatspieler im Kiez meinem damals knapp
12-jährigem Sohn Tobias an so einem Abend in der „Eule“ die wesentlichen Grundbegriffe des Skatspielens beibrachte, ja geradezu einbläute! Danke Reinhold! Die BERLINER MORGENPOST, Februar 2004:
„Ein tragischer Unglücksfall hat sich ... in der Winsstraße ... ereignet. Der 65-jährige Reinhold K. verbrannte im Hausflur ... vermutlich hatte die leicht entzündliche Kleidung ... Feuer
gefangen, als er sich eine Zigarette anzünden wollte.“
Die Zahl der „Ureinwohner“ schrumpft: Die „Alten“ sterben, die vor vielen Jahren Zugezogenen schwanken zwischen Bleiben und Gehen (nicht nur, aber auch wegen steigender Mieten!), und die neu
zugezogenen Singles und jungen Familien leben in jetzt schicken, teuren Wohnungen. Nehmen sie aber auch die Geschichte ihres Lebensumfeldes wahr? Gelegentlich beschleicht mich der Eindruck, dass
nicht wenige von ihnen glauben, die ersten wahren Menschen im Winskiez zu sein. Welch' ein Missverständnis!
✒ Text : Christian Robbe (Mai 2011)
Fotos: (c)Christian Robbe