Im Winskiez werfen sie alte legendäre Theaterinszenierungen an die Wand und stellen Theaterliteratur auf den Bürgersteig. Das Quartier, das lange den renommierten henschel
schauspiel-Verlag beherbergte, ist dem Theater verbunden. Auch jenseits des gegenwärtigen Berliner Theaterdonners und über das diesjährige Berliner Theatertreffen hinaus. Ein Gang über die
Hinterbühne.
Das Leben, die ganze Welt, ist eine Bühne – wird Theater-Urgroßvater Shakespeare gern und immer wieder zitiert. Jedes Jahr im Mai gilt das im Besonderen, scheint sich doch die Theaterwelt allein
auf Berlin zu konzentrieren. Im Mikrokosmos des hauptstädtischen Theaters treten derzeit emotionale Antipoden an die Rampe: Die besten deutschsprachigen Inszenierungen werden ab 4. Mai beim 52.
Theatertreffen gezeigt. Die Ensembles aus Hamburg, München oder Wien, die sich auf Einladung der Berliner Festspiele zum Theater treffen, entzücken die Szene, die sich gern weltoffen gibt und
sich im Mai mit der Attitüde der Selbstverliebtheit schmückt. Parallel dazu liefern sich Kulturpolitiker, Theaterintendanten und alle, die glauben mitreden zu müssen, seit Wochen wortgewaltige
Performances um die Zukunft der Berliner Bühnen. Der anstehende Generationenwechsel an der Volksbühne versetzt die Theaterwelt und Feuilletons in Aufruhr.
Den künstlerischen und rhetorischen Theaterdonner zum Anlass und dennoch einmal beiseit genommen, blicken wir – mit dem Wohlwollen der stillen Theater-Verliebten, der Getöse und Gedöns suspekt
sind – auf den Wins-Kiez. Hier gedeihen Orte, die dem Theater, dem doch Flüchtigkeit und Vergänglichkeit immanent sind, etwas Dauerhaftes, Verweilendes beigesellen. Feine Orte, in denen Theater
in Geschichte, Gegenwart und Zukunft kultiviert und gepflegt wird oder, um es salopp zu sagen, Theater-Flair für jetzt und nachher weht.
Den renommierten Theaterverlag henschel schauspiel, der nationale und internationale Autorinnen und Autoren herausgibt und ein Solitär der Theaterlandschaft ist, zog es leider von der
Marienburger Straße nach Berlin-Mitte. Geblieben und neu hinzu gekommen sind Orte, die das Theater gewissermaßen auf der Hinterbühne präsentieren. Weil dies zum einen nicht ihr Kerngeschäft ist
und weil Prenzlauer Berger Bewohner gelegentlich herummosern, es gäbe zu wenig Kultur im Stadtteil, seien sie hier ausdrücklich vorgestellt.
„Theater an die Wand gespielt“ heißt die schöne Veranstaltungsreihe im „Kaffe“, die wörtlich nimmt, was sie tut. Das Kulturcafe in der Immanuelkirchstraße, Treff der Kreativen und Intellektuellen
des Kiezes, zeigt einmal monatlich samstags Filmaufzeichnungen legendärer alter Theater-Inszenierungen von Berliner Ensemble, Deutschem Theater und Co. Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“
etwa, in der Inszenierung von Alexander Lang, oder „Nathan der Weise“ unter der Regie von Friedo Solter. Die Abende generieren sich nicht nur zu Kleinoden für Theaterstudenten und -liebhaber, sie
geben Einblicke in die Themen und ästhetischen Vorlieben der 60er, 70er und 80er Jahre, als, mangels anderer Meinungsfreiheit, Ost-Berliner Theater immer auch Zeitung, Fernsehnachricht und Moment
des freien Denkens war. Wie Kunst, Politik und Anspruch damals zusammenpassten, oder auch nicht, darüber geben als Gäste jeweils die Macher der Produktionen Auskunft.
Die Abende der „Gesellschaft zur Pflege des Kulturerbes“ sind eine wunderbare Ergänzung zu den allwöchentlichen DEFA-Film-Abenden, die seit langem im „Kaffe“ laufen. Das hat, über die
Veranstaltungen hinaus, den Theater-Veränderer Bertolt Brecht noch anderweitig aufs Winskiez-Denkmal gesetzt: „Mich wird nichts davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre
Feinde beizustehen… Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!“ das Zitat des nimmermüden Kriegswarners ist des Kaffes derzeitiger Spruch zur Zeit. Uups,
da ist der gute alte Brecht auf einmal ganz hipp.
Nun könnten wir, nach solch einem Abend, anderntags direkt neben das Kaffe ins kleine Antiquariat eilen, um Brecht und andere Geistesgrößen in alten Ausgaben und für wenig Geld zu erwerben. Doch
lenkt uns der Weg ein paar Meter weiter, an die Kreuzung Winsstraße/Heinrich-Roller-Straße.
Da steht der Brecht nämlich über der Eingangstür, neben Einar Schleef, dem Theater-Wuchtigen. „Einar & Bert“ heißt eines der wundersamsten Wagnisse, das vor genau einem halben Jahr in der
ehemaligen Druckerei begonnen hat. Juliane Felsmann heißt die Frau, die dieses Wagnis eingegangen ist. Eine Theaterbuchhandlung, in der es Bücher über, aus und von Theater gibt. Nicht mehr und
nicht weniger, ist „Einar & Bert“. Stimmt nicht, denn zudem ist es auch ein Ort für alle, die vom Theater, nun ja, besessen sind. Wie die Inhaberin selbst. Seit der Eröffnung geben sich
Schauspielerinnen und Schauspieler, Wissenschaftler und andere Theaterleute die Klinke in die Hand. Die Bücherregale sind voll Theater, die Abende sind es auch. Die Heiner-Müller-Gesellschaft
tagte hier, der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach, unter anderem ein renommierter Brecht-Forscher, wird seinen Band „Welt Theater Geschichte“ vorstellen. Große Schauspieler wie Thomas
Thieme, Corinna Harfouch und andere treten zu Lesungen auf. Das Fachblatt „Theater der Zeit“ nutzt diesen Ort regelmäßig zu einer Heft-Relaunch.
Den Laden schmückt eine ausrangierte Theaterkulisse. Davor, in den Regalen, stehen sie aneinandergereiht, die Köpfe des Theaters in Bildbänden: Birgit Minichmayr und Samuel Finzi, Ulrich Matthes
und Robert Wilson. Weil der Platz drinnen nicht reicht, stehen sie auch auf dem Bürgersteig. Und da, im Regal, hat auch er längst Platz genommen, in ganzen Bänden: Theater-Neuerfinder Frank
Castorf, dem die Berliner Politik nun, nach über 20 Jahren Intendanz der Volksbühne, mit großem Theaterdonner die Bühneneingangstür vor der Nase zuschlägt.
-al- (Mai 2015)