Menschen und Kneipen im Winskiez, Folge 4
Diese Weisheit, mal dem Griechen Heraklit (ca. 500 J. v. Christus), mal dem Engländer Charles Darwin (*1809 - 1882) zugeschrieben, passt wie die Faust aufs Auge für die Kneipenlandschaft im
südlichen Winskiez zwischen 1980 und heute. Die Wirtinnen und Betreiber zwischen der Heinrich-Roller-Straße und der Immanuelkirchstraße gaben sich die Klinke in die Hand – mit Ausnahme des
kleinen Restaurants „Mandelmond“. Schräg vis à vis war einige Jahre die „Teestube und Kneipe Birkchen“ mit auffälligem Ambiente: Birkenbaum vor der Tür, schön gestaltete Pflanzenkübel und ein
hölzernes Schild über dem Eingang.
Auch andere Nationalitäten versuchten ihr Glück in und mit der Gastronomie: Kubaner, der italienische Pizzabäcker, türkische Imbissbetreiber. Einige Jahre gab es das „Café Wins(z)ig, später
die „Bierbar Winzig“ und die Experimente von Künstlern aller Genres, mit gastronomischen Angeboten „Szenetreffs“ zu initiieren - das alles gibt es nicht mehr. Unter dem Namen „Briefe
für Felice“ initiierten wiederum junge Künstler ein „Kneipenkulturprojekt“ in der Immanuelkirchstraße 31 mit hohem Anteil an Eigenarbeit.
Nachbar Michael W. erinnert sich: „Da gab es in der Wirtsstube einen großen Kasten; die Aktiven und Besucher sollten da ihren Obolus für Speisen und Getränke hinterlassen. Gleichzeitig bedienten
sich die „Werktätigen“ für die von ihnen geleistete Arbeit aus dieser offenen Kasse.“ Und weiter: „Diese Selbstbedienungsmentalität hat dann zur chronischen Finanznot beigetragen!“ Nach nur
wenigen Jahren war die „Briefe - Post“ abgegangen. Neuer Name, neuer Versuch: Der „Klub“, heiß geliebter alternativer Treffpunkt, beglückte und beglückt jüngst Zugezogene wie auch alt
Eingesessene mit lockerer Atmosphäre und umfassendem Zeitungs- und Zeitschriftenangebot bei lichtarmer Umgebung und schmuddeligen Sanitäranlagen. Inzwischen wechselte der „Klub“ seinen Standort
in den südlichen Teil der Immanuelkirchstraße 24 und seinen Namen in „Club“ – Anpassung oder Wandel? Neben den zwei indischen Restaurantfamilien, die sich seit Jahren eine andauernde
Konkurrenz auf Sichtweite leisten, haben sich inzwischen eine Vielzahl klein-gastronomischer Betriebe angesiedelt – völlig anders im unteren Teil der Immki“: Alle Kneipen sind
weg.
Gabi R. berichtet: „ Seit 1990 wohne ich hier fühle mich im Kiez nicht mehr so wohl wie früher; eigentlich gibt es keine Kneipe mehr, wo ich gerne mal reingehen würde. Manchmal habe ich das
Gefühl, nicht mehr dazu zugehören.“ Und Carmen F. ergänzt: „Das war schon eine schöne Zeit Ende der 1980er-Jahre; es hat rapide nachgelassen. Ich erinnere mich noch gut an das „Duce“ - auch
„Die Polizeikneipe“ genannt. Da bin ich eines Abends rein mit meiner Katze an der Leine. Gisela D.,die Chefin, die „die Hosen anhatte“, war davon nicht begeistert: „Mir reicht es, dass die Leute
schon mit ihren Scheißhunden reinkommen!“ Na ja, der Winskiez ist schon auch ein Zentrum der Lebenskünstler!“ „Die Polizeikneipe“, die bis in die 1980er-Jahre im Hause Nr.13 beheimatet war -
direkt neben dem Revier 69 der Volkspolizei (bekannt für die harte Hand im November 1989!) bzw. später dem Polizeiabschnitt 77. Es geht das Gerücht, dass die Berliner Polizei den Umzug
der Kneipe auf die andere Straßenseite großherzig unterstützt hat ... Wirtin Gisela D., im Volksmund hieß ihre Budike nur „Duce“, prägte den Charakter ihrer Kneipe freundlich aber bestimmt;
zeitweise mit tatkräftiger Unterstützung ihrer beiden Töchter. Am Rande erwähnt sei das Kino „Blow Up“; danach der riesige Billardsalon am unteren Ende der Immanuelkirchstraße - jetzt ist da
seit Monaten eine Großbaustelle mit der Konsequenz der weiteren baulichen Verdichtung des Wohngebietes. Kommen wir zur Ecke Immanuelkirchstraße/Greifswalder Straße. Da, wo heute die „Roten
Engel“ fliegen, hatten Paule und Siggi Bork ihre typisch Berliner Eckkneipe; da hat man sich getroffen, gequatscht, Sorgen und Nöte ausgetauscht. Gisela J.: „Ach, was haben wir da für schöne
Feste gefeiert - Bockbierfest, Fasching, Geburtstage; Höhepunkt war immer die Silvesterfeier ... Außerdem – wenn alle anderen schon den Laden dicht gemacht hatten – war Paule Bork die
letzte Rettung!“ Die Geschichte der letzten 30 Jahre zeigt, dass das Verfallsdatum des gastronomischen und klein gewerblichen Engagements mit guten Ideen, vielem Herzblut und
freundlicher Leidenschaft immer kürzer wird, denn: „Nichts ist beständiger als der Wandel“
✒ Text : Christian Robbe (April 2011)
Fotos: Gaststättenschild (c)Christian Robbe
Dauerbaustelle Immanuelkirchstraße, März 2011, (c) Birgit Robbe
Anfang der 1990er Jahre eröffneten eine Gruppe junger Künstler die Gaststätte „Briefe an Felice“ im Hause Immanuelkirchstr. 31; damit erinnerten sie an Felice Bauer. Ihre jüdisch - kleinbürgerliche Familie übersiedelte, aus Oberschlesien kommend, 1899 nach Berlin. Am 13. August 1912 lernte Franz Kafka ( 1883-1924) in Prag - Felice Bauer(1887- 1960) kennen. Niemand weiß, ob es „Liebe auf den ersten Blick“ war. „Fräulein B. ... saß bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor ... Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Übergeworfene Bluse ... Fast zerbrochene Nase, blondes, etwas steifes, reizloses Haar, starkes Kinn“ 1, so hält K. in seinen „Tagebüchern“ das erste Zusammentreffen fest. Der Schriftsteller aus Prag - kleiner Angestellter bei einer Versicherung - und die gut situierte, leitende Angestellte namhafter Betriebe in Berlin, schrieben sich in ihrer fünfjährigen Beziehung zahllose Briefe. Die unterschiedlichen Charaktere kamen bis zur endgültigen Trennung 1917 immerhin auf zwei Verlobungen und zwei Trennungen! So schreibt K. am 9. März 1914: „Ich bin an F. verloren“ 2; am 24. Januar 1915 heißt es: „F. sagte: „Wie brav wir hier beisammen sind.“ Ich schwieg, als hätte während dieses Ausrufes mein Gehör ausgesetzt. Zwei Stunden waren wir allein im Zimmer. Um mich herum nur Langeweile und Trostlosigkeit. Wir haben miteinander noch keinen einzigen guten Augenblick gehabt, währenddessen ich frei geatmet hätte.“ 3
„Kafka erhoffte von Felice das Entkommen aus dem Beamtendasein, weg vom verhassten Prag und Österreich nach Berlin oder Palästina. Felice war Zionistin und das war Kafka ... sehr angenehm: doch Felice wollte Heirat und nach Prag ziehen ... Sie sah sich als Beamtengattin und nicht als hungerleidende Frau eines Schriftstellers.“ 4 Die Frage bleibt wohl unbeantwortet.
✒ Text: Christian Robbe (März 2011)
(1),Franz Kafka Tagebücher 1910 - 1923, S. Fischer Verlag 2. Auflage 1948, Seite 204;
(2) a.a.O., S. 260;
(3) a.a.O., S. 329;
(4), Interview mit dem Filmemacher Christian Frosch zu seinem Film „K.af.ka fragment“, www.haGalli.com - 31.01.2002