Menschen und Kneipen im Winskiez, Folge 5
Biegt man – von der Immanuelkirchstraße kommend – in die Winsstraße ein, so ist man (neben dem inzwischen kiezüblichen Leerstand) mit lustigen, skurrilen oder geheimnisvoll-merkwürdigen Namen von Schickimicki-Gaststätten, kleinen Gewerbetreibenden und Kneipen konfrontiert: „Ilse Hühnchen – Café und Kekse“, „WEINBERG“, „Herr Rossi“, „HOLZ-Siegel“, „La bohème“, „TOMSKY“, „Krimibuchhandlung totsicher“, „winszenz“, „fraumüller“, „Die Grinberg Methode“, „Salix“, „Enten und Katzen“, „Welt der Weine“: Spätesten beim Lohnsteuerbüro und der Kaufhalle „A&P – Kaisers“ in der Marienburger Straße ist der Spaß dann vorbei …In der kleinen, aber gut angenommenen „Bäckerei Prenzel“ in der Immanuelkirchstraße 29/Ecke Winsstraße 64a (... dabei denke ich wieder an Felice Bauer und Franz Kafka – vielleicht haben sie doch ...?), betrieben vom unermüdlich-aktiven Mustafa Öztürk, treffe ich meinen Freund und Nachbarn Heinz Daugs – ein freundlicher, offener und umtriebiger Mann, der seit seiner Geburt 1925 in der Marienburger Straße 15 im Winskiez lebt.Nach seiner Einschulung in der „Evangelischen Klasse“ (es gab auch eine katholische) der Grundschule in der Christburger Straße freut sich der kleine Heinz auf die freien Nachmittage in und auf der Winsstraße: Da kann er mit seinen Schulkameraden, Nachbarn und Freunden spielen: Treiberball, Verstecken, Völkerball, Kicken. Die Straße ist ohne jede Markierung - eine Spielstraße – und die wenigen Autos, die sie passieren, nehmen Rücksicht auf die spielenden Kinder, die sich im Zweifelsfall auf das Trottoir zurückziehen können.
In der 2. Etage des Hauses Winsstraße 63 wohnt die Familie Rosenthal mit ihren Söhnen Hans und Gert. Hans ist genauso alt wie Heinz. Er gehört zusammen mit seinem jüngeren Bruder Gert und anderen Kindern zu den Spielkameraden in der Winsstraße. „Ich war oft bei „Hansi“ zu Hause; da haben wir alles gespielt, was Kinder so spielen … Und vis à vis gab es in der Nummer 17 die Kneipe von Heinz Maier: „Da habe ich manches Mal für meinen Vater Feierabendbier der Marke „Berliner Kindl“ geholt ...“Irgendwann hatte es sich dann ausgespielt: Nach dem Ende seiner Schulzeit macht Daugs eine Ausbildung bei der „Graphischen Maschinenfabrik Heinrich Rohrbacher“ als Maschinenschlosser. Die Firma – auch ansässig im Hof der Winsstraße 63 – wird nach der Machtübernahme der Nazis als Rüstungsbetrieb eingestuft: „So kam ich um den Reichsarbeitsdienst (RAD) herum - dafür wurde ich aber direkt nach dem Ausbildungsabschluss zur Wehrmacht eingezogen.“ Heinz Daugs windet sich ein wenig: „1942 wurde ich mit 17 amtlich für volljährig erklärt, weil … ich meiner Freundin ein Kind gemacht habe undsie deshalb umgehend heiraten musste – das habe ich nie bereut!“Erst 1948 kommt er aus der Kriegsgefangenschaft zurück und kann sich seiner Familie widmen; besonders seinen Söhnen Michael und Manfred.Bis zum Rentenbeginn arbeitet er im Druckgewerbe; später genießt er den Lebensabend bis zum für ihn zu frühen Tod seiner Frau.Er macht Musik, interessiert sich für Kultur und Geschichte und engagiert sich ehrenamtlich in der Initiative „Kinder des Vulkans – Solidarität mit den Menschen in Nicaragua“.
Nichts charakterisiert ihn besser; es wurde sein Markenzeichen: Der legendäre Hopser zur Publikumsantwort: „Das war Spitze!“Das „Spielkind“ Hans Rosenthal kümmert sich neben seiner Ausbildung nach dem frühen Tod seiner Eltern unermüdlich um seinen kleineren Bruder Gert. In seiner Autobiografie „Zwei Leben in Deutschland“ (Gustav-Lübbe-Verlag, Bergisch-Gladbach, 1980) erzählt er vom Vorhaben seines Bruders, ihm von jeder Station seiner Reise eine vorbereitete Postkarte zu schicken. Es kam nie eine Karte an – Gert Rosenthal wurde zusammen mit anderen Kindern aus dem jüdischen Waisenhaus in der Schönhauser Allee deportiert und ermordet. Irgendwann merkt der heranwachsende Jude Rosenthal, dass es für ihn eng wird in Nazideutschland – er findet aufrechte Frauen, die ihn in ihren Lauben in Lichtenberg jahrelang verstecken. Seine einzige Verbindung nach „draußen“ ist ein Radio …Nach Kriegsende 1945 marschiert „Hänschen“ zum sowjetisch geführten „Berliner Rundfunk“ in der Masurenallee – und damit beginnt eine einzigartige Karriere als Radiomann, Quizmaster und Unterhaltungsgenie.Seit 1948 beim „Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) erfindet und gestaltet er am laufenden Band Sendeformate, die sich in der fernseharmen Zeit der 1950er und ersten Hälfte der 1960er Jahre großer Beliebtheit erfreuen – nicht nur im von der DDR umzingelten West-Berlin, sondern auch und gerade in der „Soffjettzone“ (Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1949-1963).
Die Hörerpost zu Sendungen wie „Wer fragt, gewinnt“, „Das musikalische Sonntagsrätsel“, „Die Insulaner“, „Die Rückblende“, „Spaß muss sein“ und „Allein gegen alle“ füllt Lastwagen mit Briefen und Karten von „Drüben“ - mit und ohne „Deckadressen“. Der Verfasser hatte 1963 die Chance, bei der Sendung „Spaß muss sein für Kinder“ als Spielkandidat mitzuwirken. Seine Aufgabe war, einen x-beliebigen Menschen anzurufen, um ihn vom frühen Schlafengehen zu überzeugen. Als im Verlauf des Telefongespräches der Kandidat einen damals gängigen Werbespruch zitierte, griff Rosenthal entnervt ein: „Das ist ja Schleichwerbung!“ und erklärte ihn zum Gewinner.
Mit „Dalli Dalli“ startet im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) die Fernsehkarriere von Hans Rosenthal, der sich neben seiner Berufsarbeit für den Berliner Fußballclub „Tennis Borussia“ und im „Zentralrat der Juden in Deutschland“ engagiert. Seine Popularität hält bis zu seinem frühen Tod am 10. Februar 1987 unvermindert an. Mehr als 10 Jahre dauert es bis zur Würdigung für den Showmaster am Haus Winsstraße 63. Das hartnäckige Engagement des Rosenthal-Biografen Thomas Henschke („Ein Leben für die Unterhaltung“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin-Prenzlauer Berg, 1999) und die Unterstützung durch Kiezbewohner führten erst im Jahr 2000 dazu, dass der damalige Bürgermeister von Prenzlauer Berg, Reinhard Kraetzer (SPD), in Anwesenheit der Familie Rosenthal und zahlreicher Freunde und Kollegen Rosenthals die „Berliner Gedenktafel“ enthüllte.
Zwei pralle Leben in Deutschland – es war und ist nicht immer lustig gewesen.
✒ Text : Christian Robbe (Jun 2011)
Fotos: (c)Christian Robbe