Menschen und Kneipen im Winskiez, Folge 7
„Der Anker“ gelichtet, die „Titanic“ nochmal gesunken und die „Kohlengrube“ wird abgewickelt.
Paul Kellermann war der letzte Gastwirt der Gaststätte „Zum Anker“ - nur noch die künstlerische Installation am Eckhaus Winsstraße E. Chodowiekistraße erinnert an ihre Existenz. Ein Gast erinnert
sich an eine spektakuläre Situation in der Wendezeit. Ein gewisser Ibrahim Böhme - wohnhaft in der Nachbarschaft - schlägt in Begleitung einer Gruppe kräftiger Herren auf und räumt -
offensichtlich stark angetrunken - Gläser und Geschirr von der Theke. Böhme, am 7. Oktober 1989 in Schwante Mitbegründer der „Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP)“, wird vor den ersten
freien Wahlen am 18. März 1990 Spitzenkandidat seiner Partei und sieht sich schon als ersten SPD-Ministerpräsidenten der gewendeten DDR. Wenige Tage nach den Wahlen wird über Böhme bekannt, dass
er seit 1969 als „Inoffizieller Mitarbeiter (IM) Maximillian“ regimekritische Gruppen für die Staatssicherheit ausgehorcht hat. Ein Parteiführer entpuppt sich als banaler Leichtmatrose ...
Eine nicht mehr nachgefragte Kohlenhandlung wird die Kleingaststätte „Kohlengrube“, zeitweise ein familiärer Treffpunkt zwischen den schon nicht mehr existierenden „Anker“ und der abgesoffenen
„Titanic“. Kati ist die Seele des Hauses: Sie organisiert Geburtstags- Weihnachts- und Silvesterfeiern – ihre leckere Ente mit Rotkohl und Klößen spüre ich noch nach vielen Jahren auf der Zunge.
Das Hinterzimmer wird vielfältig genutzt:
Friseursalon, Besprechungs- und Shisha-Rauchzimmer. Mir ist die „Kohlengrube“ als bedeutender Ort der gegenseitigen Hilfe, nachbarschaftlichen Kommunikation; als Treffpunkt von Künstlern und
Lebenskünstlern in guter Erinnerung. Schade, dass Kohlen immer weniger gebraucht werden ebenso wie gewachsene soziale Orte, wo Menschen mit wenig „Kohle“ gern gesehen sind.
Das Szenelokal „Titanic“ tauchte zu Beginn der 1990er Jahre an der Ecke Winsstraße/Christburger Straße auf: Im Zentrum der gern und viel genutzte Billardtisch, das damals angesagte irische Bier
und kleine schmackhafte Speisen, bestimmen die Atmosphäre. Dazu Gäste, die sich an den langen Öffnungszeiten erfreuten.
Der 1726 in Danzig geborene Daniel Nikolaus Chodowieki (sprich: Chodowietzki) war ein bedeutender Kupferstecher, Grafiker und Illustrator seiner Zeit. Im Haushaltswarengeschäft seines Onkels
zeichnete er Modeschmuck und begann seine künstlerische Ausbildung. Bald brauchte er eine eigene Werkstatt, in der er qualifizierte Kupferstecher und Miniaturmaler beschäftigte. Darüber hinaus
engagierte sich Chodowiecki in der französischen Gemeinde und wurde führendes Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Künste - von 1797 bis 1801 war er deren Direktor.
Deren Aufgabe beschreibt er anschaulich: „Academie ist ein Wort, das eine Versammlung von Künstlern bedeutet, die ... zu gewissen Zeiten zusammenkommen, um sich miteinander über ihre Kunst
freundschaftlich zu besprechen, sich ihre Versuche, Einsichten und Erfahrungen mitteilen, einer von den andern zu lernen, sich miteinander der Vollkommenheit zu nähern suchen.“(1)
Der ebenfalls in Danzig geborene Literaturnobelpreisträger Günter Grass gründete 1992 in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste, die „Daniel-Chodowiecki-Stiftung“ zur Förderung junger
Künstler aus unserem Nachbarland Polen.
Ein später Nachmittag. In der „Kohlengrube“ nur wenige Gäste an der Theke. Ich begrüße wie immer Kati mit herzlicher Umarmung. Sie deutet mit ihren Augen auf das Hinterzimmer. Ein einzelner Gast
brabbelt stark angetrunken vor sich hin. Ich traue meinen Augen nicht - dieses charakteristische Gesicht - eindeutig Hans Fallada! Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, gehe auf ihn zu und frage
ihn: „Herr Fallada, Sie haben doch in den 1930er-Jahren in Neuenhagen bei Berlin gewohnt, in unmittelbarer Nähe meiner Großeltern und jetzt wohnen Sie in Pankow. Was treibt sie ins
Winsviertel?“
„Junger Mann, Sie kennen meinen letzten Roman von 1946 nicht! Der spielt hier; in der Jablonskistraße 55 wohnt das Ehepaar Quangel, die Hauptfiguren in „Jeder stirbt für sich allein“. Der
Johannes R. Becher vom Kulturbund hat mich dazu angestiftet und materiell unterstützt.
Erst habe ich mich mit dem Stoff erst schwer getan; ich hatte ja nur die Naziakten. Doch nach meiner eigenen Murkelei während des 1000-jährigen Reiches habe ich mir gestattet „darauf aufmerksam
zu machen, dass in diesem Buch fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern.(2)
Ich will ... zeigen, wie ein kleiner Mann aus dem Volke einen von vornherein aussichtslosen Kampf gegen die hitlerische Staatsmaschinerie führt.“(3)
„Vielleicht finden auch Sie, junger Mann, dass in diesem Buch reichlich viel gequält und gestorben wird ... Etwa ein gutes Drittel ... spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen
war das Sterben sehr im Schwange. Es hat mir oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.“(4)
Was ich hier mache, fragen Sie mich? Sie Ahnungsloser - ich habe da ein Lied geschrieben; kennen Sie bestimmt auch nicht:
„Wir trinken gerne sehr viel
denn wir haben ein großes Ziel
In ferner Zukunft wollen sein
Alkoholiker mit einem Raucherbein
Sterben tut jeder für sich allein“
Und manchmal kann ich die Unaufrichtigen, die Hinterfotzigen, also Lumpen nur im Suff ertragen ...
Text + Fotos : (c)Christian Robbe (Juli 2011)
Quellennachweis:
(1) Geschichtsüberblick der Akademie der Künste Berlin, www.adk.de
(2) Aus dem Vorwort - 26. Oktober 1946 Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein Ungekürzte Neuausgabe 2011, Aufbau-Verlag, Berlin
(3) Manfred Kuhnke - Falladas letzter Roman - Die wahre Geschichte,
edition federchen - Steffen Verlag, Friedland - 2011
(4) Aus dem Vorwort - 26. Oktober 1946
(5) Hans Fallada - Sauflied; gefunden bei www.gollyr.de