Jüngst verweilte ich mit meinem Fahrrad auf der Brücke über den Teich im Thälmannpark, um meinen Kopf freizubekommen. „Jo, um dän Deich gümmern sisch de Anwohnor aus de Bungthochhäusor hior
...“, klärte mich eine sehr nette, reifere Dame in urigstem Berliner Sächsisch auf. Das sind so Informationen, die einem gerade dann zu fliegen, wenn man sie am wenigsten erwartet und …
gebrauchen kann. Die Anwohner der Punkthochhäuser hätten Fische in den Teich eingesetzt, erzählte mir die freundliche Dame und zeigte mir noch eine Wasserschildkröte, die sich gerade auf
einer Astgabel mitten im Teich sonnte. Ich bedankte mich so artig, wie ich es von meiner Mutter in der Kindheit eingebläut bekommen hatte, gab der Dame meine Visitenkarte und stand noch auf
dieser Brücke, als zwei Herren – offenbar Inschönschöre! – mit großen Bauzeichnungen ankamen, sich an eines der Brückenenden stellten und sich miteinander darüber unterhielten, wo man sie in den
nächsten Tagen absperren, wie man die Reste der alten Holzbrücke entsorgen und wohin man dann die Fundamente der neu zu errichtenden Betonbrücke ins Erdreich einlassen wolle. Sollte es
tatsächlich noch Baumaßnahmen im Prenzlauer Berg geben, an denen keine Bürgerinitiativen in irgendeiner Form beteiligt werden? Weit gefehlt, nur zwei Stunden später wurde über die neue BI
berichtet ...Ich musste mir das durch den Kopf gehen lassen und setzte mich zu Hause in die Sonne auf meinen Balkon. Die Pappel vor dem Fenster rauschte, die große, weiße Plastefolie über der
Terrasse der ausgebauten Dachgeschosswohnung im Haus gegenüber blähte sich wie ein Segel der Gorch Fock und übertönte mit ihrem Geknatter sogar das Tschilpen der Spatzen …
Wie immer am 1. Mai zog ich morgens mein blaues FDJ-Hemd mit dem Sonnenaufgangsemblem am linken Arm über und begab mich dann auf den Weg zu unserem Marschblock am Rande der Karl-Marx-Alle, von
dem aus wir uns in die lange Reihe der Demonstration einreihen würden. Auf Höhe des Café Moskau latschen wir dann endlich an Erich Honecker und Konsorten vorbei, winkten fröhlich, gröhlten
vorgegebene Losungen mit (wie etwa „Drushba – Freundschaft“, „Meine Hand für mein Produkt“ oder „Wo wir sind, ist vorn … und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn“), um anschließend in einer der
zahllosen Eckkneipen entlang der Prenzlauer Allee, Dimitroff- (jetzt Danziger Straße), Kollwitzstraße bis zum Senefelder Platz zu versacken. In jeder der Kneipen nur ein Bier und man war am Ende
sturzbetrunken. Diese Zechtour machten wir unter Arbeitskollegen immer ein- bis zweimal im Jahr. Aber natürlich würde ich mich, so wie in jedem Jahr, in meinem Marschblock zuerst bei meinem
Parteisekretär sehen lassen. Dann, als FDJ-Sekretär einer HO-Kaufhalle, würde ich selbst die Anwesenheit meiner „Schäfchen“ auf einer Liste abhaken und mich später - genauso heimlich wie
alle anderen - ebenfalls in Richtung Heimat oder Prenzlauer Allee verdrücken. Gesagt - getan und flugs stand ich vor einer Eckkneipe in der Saarbrücker Straße und schlunzte von dort aus die
Kollwitzstraße hoch. Die Häuser überall mit Fahnen behängt. Wer Genosse war oder gar heimlich beim MfS arbeitete, flaggte … oder hatte zu flaggen. Wer das nicht tat, fiel schon wieder unangenehm
auf. Fähnchen, Fahnen und Girlanden übertünchten aber nur unzureichend den überall bröckelnden, maroden Putz an den Hauswänden, an denen auch noch über vierzig Jahre nach deren Ende Einschüsse
aus der Kriegszeit zu sehen waren. Aber im Gegensatz zu heute, wo Hinterhäuser wieder neu gebaut werden, verschwanden diese damals. So zum Beispiel in der Husemannstraße, die als DAS
Vorzeige-Altbausanierungsobjekt galt und 1987 sogar durch einen Besuch von Erich Honecker höchstpersönlich „geadelt“ wurde.
Etwa zweihundert Meter Straße wurden auf „Alt-Berlinisch“ getrimmt, der Rest verfiel weiter. Auch die Menschen sehen anders aus. Als männliches Kleidungsstück dominiert eindeutig der
„Parker“; Frisur, wenn man sie so nennen darf, ist bei Männern der Vollbart. Frauen tragen schick „Vokuhila“; die offen getragene Plastetüte aus dem Intershop oder dem KaDeWe zeigt Opposition.Der
Kollwitzplatz wurde am 7. Oktober 1947 nach der deutschen Grafikerin und Bildhauerin benannt, die hier einen Großteil ihres Lebens im Haus Kollwitzstraße 56a (damals Weißenburger Straße 25)/Ecke
Knaackstraße von 1891 bis 1943 lebte. Bis dahin hieß er Wörther Platz; ein Name, den er bei der Bauplanung des Gebietes 1875 erhielt. Der dreieckige Platz ist rund 6000 m² groß. Die
Skulptur „Mutterliebe“ auf dem Kollwitz-Platz gibt’s schon lange. Sie ist seit Generationen bei den Kindern zum Daran-Herumturnen beliebt. 1956 erhielt Gustav Seitz vom „Magistrat von
Groß-Berlin“ den Auftrag zu einem Kollwitz-Denkmal. Nach der Vorlage eines Selbstporträts der Malerin entwarf er eine Bronzeplastik, die man 1961 in der Mitte des Platzes aufstellte. Das Gelände
um den Platz wurde ursprünglich vom Deutsch-Holländischen Actien-Bauverein gekauft, um es bis 1875 systematisch als Wohngebiet zu erschließen. Kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg erhielt
der Platz seinen Namen „Wörther-Platz“. Auch die umliegenden Straßen erhielten Namen, die von Orten vor allem im annektierten Elsass-Lothringen abgeleitet wurden oder an gewonnene Schlachten
erinnern sollten. Von 1885 bis 1887 gestaltete man die Anlage als typischen gründerzeitlichen Schmuckplatz. Im Jahre 1949 wurde der Kollwitzplatz nach Entwürfen des Gartenarchitekten Reinhold
Lingner umgestaltet. Mitte der 1990er Jahre wurden drei der vier leeren Eckgrundstücke wieder neu bebaut.Das ganze Viertel ist schon seit Jahren „in“. Selbst der US-amerikanische Präsident Bill
Clinton speiste vor Jahren hier, ich glaube im April 2000. Die Grundschule am Kollwitz-Platz in der Knaackstraße ist noch ein typischer DDR-Plattenbau. Dieser Einheitsschultyp wurde etwa ab
Anfang der 70er Jahre vor allem in den neuen Plattensiedlungen (in der Judith-Auer-Straße am Volkspark Prenzlauer Berg wurden erst im April zwei dieser Blöcke abgerissen), aber auch in Baulücken
wie hier in Prenzlauer Berg, in Großserie und meist sehr schnell errichtet. Ein sehr auf das absolut Notwendige reduzierter Schultyp ohne die bei Schulaltbauten oft integrierte typische
Sporthalle und ohne ehrfurchtgebietende Aula, dafür aber mit einer Schulspeisung im Keller. Der Jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee 23–25 wurde hauptsächlich zwischen 1827 und 1880
genutzt. Vereinzelte Beerdigungen auf reservierten Flächen gab es noch bis in die 1970er Jahre. An der Außenseite des Friedhofs, zwischen der südöstlichen Begrenzungsmauer und den Höfen der
daran anschließenden Bebauung, erstreckt sich zwischen Senefelder- und Kollwitzplatz der sogenannte „Judengang“. Er ist etwa sieben Meter breit und 400 Meter lang. Sein heutiger Eingang
befindet sich in der Knaackstraße 41 am Kollwitzplatz Die Quellen sprechen davon, dass dieser Weg zu einem Hintereingang des Friedhofs angelegt werden musste, weil König Friedrich
Wilhelm III. bei seinen Fahrten zum Lustschloss Schönhausen auf der Schönhauser Allee keinem Leichenzug begegnen wollte. Der „Judengang“ wurde 2003 als Gartendenkmal neu hergerichtet, den
unmittelbaren Anwohnern steht er als „halbprivater Grünraum“ zur Verfügung.Ein Highlight am Ende der Kollwitzstraße ist nicht nur der Senefelder Platz selbst, sondern das darauf stehende
denkmalgeschützte Pissoir. Diese im Volksmunde „Café Achteck“ genannten „öffentlichen Bedürfnisanstalten“ bestehen aus sieben grün lackierten gusseisernen Wandsegmenten, die einen achteckigen
Grundriss bilden. Die fehlende achte Wand bildet den Eingang, bei dem ein davorstehender Paravent aus mindestens drei Segmenten einen Sichtschutz bildet. Der Entwurf für diese Bedürfnisanstalten
stammt aus dem Jahre 1878 vom Stadtbaurat Carl Theodor Rospatt. Im Jahr 1920 gab es etwa 142 von diesen Pissoirs in Groß-Berlin. Sie bieten im Innern Stehplätze für sieben männliche
Personen.
Als ich auf meinem Balkon erwachte, war das Leben wieder „normal“. Nur diese nervende Plastefolie am Haus gegenüber knatterte weiter im Wind und ich war froh, nicht nur neunundzwanzig Jahre „real
existierenden Sozialismus“, sondern auch noch ein bis heute einundzwanzig Jahre andauerndes Kapitalismus-Praktikum bislang erfolgreich überlebt zu haben.
✒ Rolf Gänsrich (Jun 2011)