Oderberger Straße
Breite Gehwege mit grünen Inseln, die zum Himmel überm Mauerpark führen. Restaurant an Restaurant, Second Hand an Second Hand, und dazwischen noch die Aura von Trotz und Kreativität. Die
Oderberger Straße ist eine Legende. Ein neuer Film nähert sich ihr durch die Hintertür.
Ach, die Oderberger. Es gibt nicht so viele Straßen in Prenzlauer Berg, um die sich so viele Mythen und Legenden ranken. Die eine – ja – Aura haben. Hier war das Ende Ost-Berlins, war irgendwann
Schluss mit der DDR. Fototafeln an der Ecke Oderberger/Schwedter Straße zeigen, wie das war. Da stand die Mauer, einen Steinwurf von den letzten Häusern entfernt. Deren Fenster waren auch
zugemauert. Und hinter der Mauer, zwei Steinwürfe entfernt, die Freiheit. Vor der Mauer, also auf der Ostseite, graue, gebückte Menschen, hinter ihnen das unüberwindbare Machwerk aus Stein und
Grau.
Kein Wunder, dass hier, in der Oderberger Straße, der Sackgasse zur Freiheit, das oppositionelle Leben wuchs und blühte, für das der Prenzlauer Berg nun mal berühmt geworden ist. Das ist, auch 25
Jahre, nachdem die Mauer fiel, noch wichtig zu erzählen. All die Touristen, die in Scharen von der Kastanienallee zum Mauerpark strömen, haben diese Aura noch nicht kaputt getrampelt. Ein
bisschen plattgemacht, vielleicht. Hier war die Mauer. Prenzlauer Berg, Berlin, tut gut daran, dieser Erinnerungsecke die Würde zu bewahren.
Die Oderberger Straße ist zweigeteilt, von der Kastanienallee in einen idyllischen Zipfel gen Schönhauser Allee und eine Touristen-Schneise gen Mauerpark zerschnitten.
Der kleine idyllische Zipfel beginnt hinter der Kulturbrauerei, da, wo die U-Bahn aus ihrem Schacht unter der Erde auf die Schönhauser Allee auftaucht. Auf seinen nicht mal 200 Metern hat der
Oderberger-Zipfel eine ganze Menge Wundersames versammelt. Das alte Stadtbad und schräg gegenüber ein unsaniertes Haus, wo unter der Inschrift „Fleischwaren“ Leute zum Kaffee sitzen. Ein
ökologisch-ästhetisches Vorzeige-Haus einer Architekten-Gemeinschaft und alte stille Bäume. Insgesamt herrscht in diesem Zipfel eher Seitenstraßen-Wohnflair. Vor dem Tabak-Kiosk sitzt der Inhaber
und raucht, runter zur Choriner Straße radeln Kinder.
Das Stadtbad, das den Straßenzipfel lange dumpf und muffig überstrahlte und Zwischen-Ort kreativer Spektakel war, sieht dem Ende seiner Sanierung entgegen. Die Sandstein-Fassade ist hell, das
Dach neu gedeckt. Im Oktober diesen Jahres soll es eröffnen – als Bad und Sprachen-Campus, als Veranstaltungsort und Hotel. Die steinerne Inschrift „Stadtbad Prenzlauer Berg“ ist nur noch zur
Hälfte erhalten, dafür in Gänze die vielen Reliefs nackter Nymphen.
Rüber über die Kastanienallee wird die Oderberger Straße zur Schneise, sie wird breit und öffnet den Blick – jetzt endlich – zum Mauerpark. Hier wird sie zur Touristenmeile, wo sich Restaurant an
Restaurant, Inder an Koreaner, Chinese an Thai reihen. Kaum unterscheidbar. Dazwischen Nippes, überteuertes Second Hand. Kreativ sind hier, wenn überhaupt, die Labels und die Namen der Läden. Und
die grünen Inseln – auf die Gehwege gepflanzt, dem Sanierungswillen abgetrotzt, geben sie der Straße etwas Anheimelndes. Alte Sofas und hölzerne Sitzbänke stehen zwischen den wilden Pflanzen und
Bäumen.
Rechts öffnet sich die Oderberger auf eine Freifläche. Auf einer Hauswand steht in großen roten Buchstaben „Deutschland braucht mehr Fantasie“. Darunter tummeln sich Kinder auf den hölzernen
Hirschen des Spielplatzes. Das ist der Hirschhof, einer der Orte, dem die Oderberger Straße ihren Ruf als Straße der Dissidenten und intellektuellen Aufmüpfigen verdankt. Diesen grünen Hof
trotzten die Oderberger-Bewohner in den 80er Jahren einst dem Häusergrau der DDR ab. Und der Staatsgewalt: Hier veranstalteten sie die Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen, in denen die
Gedanken frei waren und nicht ideologisch eingemauert. Heute ist der Hirschhof ein schöner, entspannter Spielplatz.
Ein paar Schritte vor dem Hirschhof hat die „MAKE_SHIFT gGmbH“ einen Ort gefunden. Diese gemeinnützige Gesellschaft sorgt sich um die Vermittlung von Architektur. Was sperrig klingt, findet in
einem Festival in diesem Monat eine sinnliche Entsprechung: „Make City“ heißt der internationale Treff, mit dem die Gesellschaft das „Konzept urbaner Gemeingüter neu beleuchten will“. Wem gehört
die Stadt Berlin, welcher Gestaltungswillen verbindet Bewohner, Architekten, Kreative und die Politik? Diesen Fragen nach der städtebaulichen Zukunft Berlins spürt das Festival an vielen
Veranstaltungsorten in der ganzen Stadt nach. Da hat die Oderberger Tradition des freien Geistes und der Aufmüpfigkeit, wenn man so will, ihre Entsprechung im 21. Jahrhundert gefunden.
Wenige Schritte von diesen Zukunfts-Erbauern entfernt, wird die Oderberger Straße wieder historisch. Und sie wird dörflich. Eine rote Robinie blüht vor rotem Backstein. „Rauchfreies Gebäude“
steht an der Tür des Gebäudes mit der Nummer 24. Das ist die älteste Feuerwache Deutschlands. Von hier aus starten seit 1871 Feuerwehrleute zu ihren Einsätzen bei Unfällen und Bränden.
Wie wohnt es sich auf der Oderberger Straße, zwischen Dissidenten-Aura, Berlin-Historie und Vergnügungsmeile? Die Fotografin Nadja Klier, die dort zehn Jahre lebte, hat gemeinsam mit ihrer
Mutter, der DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier, einen Film zu dieser Frage gedreht. „Meine Oderberger Straße“ dokumentiert die Geschichte der Oderberger, in kleinen Geschichten und in den vielen
Gesichtern der Menschen, die die Straße prägten und prägen. Ende Mai hatte der Film Berlin-Premiere, am 2. Juni ist er im rbb-Fernsehen zu sehen.
-al- (Juni 2015)