LEBENSENTWÜRFE IN PRENZLAUER BERG

Eine Suche im S-Bahn-Kreis

Manchmal nimmt das Leben andere Wege als geplant. Dann findet sich eine Frau in der S-Bahn wieder, verteilt handgeschriebene Lebensläufe und sucht nach einem Ausweg. Die Geschichte dieser Suche, eine flüchtige Begegnung mit einem Menschen, der entwurzelt ist.

 

Sie lebte im Gleimkiez. Viele Jahre hatte Annika K. in der Kopenhagener Straße eine großzügige Wohnung, in der sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und dem Kind zu Hause war. Kleiner Balkon mit Kräutern und Blumen davor, nette Nachbarn zum Schwatz im Treppenhaus. 

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Manchmal geht im Leben nichts mehr, scheinen Zeit und Kraft ausgelöscht wie auf einer leeren Uhr.

Jetzt ist Annika K. öfter in der S-Bahn anzutreffen. Ringbahn, Linie S 41 oder S 42, Richtung egal. Ringbahn, weil auf der Fahrt um Berlin viele Menschen ein- und aussteigen und sie sich selbst das Umsteigen sparen kann. 

Es ist auch eine gewisse Routine in der täglichen Fahrt auf der immer gleichen Strecke. Diese Routine braucht sie, weil sie eine andere gerade nicht hat. Der Aufenthalt in der Bahn beginnt für sie wie ein Arbeitstag. Sie packt sich frühmorgens eine Flasche Wasser, zwei Brote und einen Packen handbeschriebener Zettel ein. Dann fährt sie los, jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit. 

Annika K. hat ihre Jobsuche in die S-Bahn verlegt. Auf den Zetteln stehen ihr Beruf, ihre Arbeitserfahrung, ihre Kontaktdaten. Sie verteilt diese Zettel an die Menschen, die mit ihr fahren. Sie erzählt eine kurze Geschichte dazu. Einige Jahre hat sie an der Rezeption eines Hotels gearbeitet. Später dann, als die Tochter kam, wechselte sie ins Back Office, weil Schichtarbeit nicht mehr ging. Irgendwann schmiss der Chef sie raus, er musste sparen. Er wollte jüngere, konformere Mitarbeiter. Das Geld für die letzten drei Monate bezahlte er ihr nicht. Jetzt sucht sie einen neuen Job, drückt den Mitreisenden in der S-Bahn ihre Zettel in die Hand. In der Regel nehmen nur wenige die Zettel tatsächlich mit.

Was Annika K. nicht erzählt, wenn sie ihre handgeschriebene Job-Annonce übergibt: Nach dem Arbeitsplatz ging auch die Beziehung in die Brüche. Die Jobsuche, der Kampf ums Geld zermürbte die Liebe. Zwischenzeitliche Jobs blieben Kurzaufenthalte. 

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Ihr alter Kiez. Irgendwie sucht Annika K. hier, wie es weiter gehen kann. Fotos (2): al

Dann starb das Kind. Die Disziplin, der Halt, all das Schöne im Leben – all das starb mit. Sie ging endgültig vom Partner und aus der Kopenhagener Straße weg, zog raus nach Karow. Im Haus eines alten Tierarztes fand sie ein Zimmer. Die Miete ist günstig, das Zimmer seit Jahren nicht renoviert. Im Notfall, so bat sie der alte Herr, solle sie für ihn da sein. Deswegen das Entgegenkommen beim Preis. Mehr ist nun seit Monaten nicht. Außer der täglichen Jobsuche in der S-Bahn. 

Warum sie nicht ins Arbeitsamt geht? Sie ist mehrmals dort gewesen. Sie mochte den Ton nicht; nicht, wie mit ihr gesprochen wurde. Nicht die Atmosphäre, in der sie sich kleingemacht und unzulänglich fühlte. Dann lieber auf eigene Faust. 

Einmal erhielt sie einen Anruf einer älteren Dame. Eine Nachbarin hatte ihr einen der Zettel aus der S-Bahn mitgebracht. Ob sie auch als Haushaltshilfe arbeiten würde? Annika K. fuhr hin, stellte sich vor. Mit Haushaltshilfe, so wurde schnell klar, war der Job einer Krankenschwester gemeint. Die alte Dame war schwer pflegebedürftig, brauchte nahezu rund um die Uhr medizinische Betreuung. Ihre bisherige Betreuerin war vor kurzem in den Ruhestand gegangen. Annika K. sagte ab. Musste absagen, weil sie sich diesen Job nicht zutraute. Doch der Anruf gab ihr Hoffnung. Sie wartet auf den nächsten.

Manchmal geht sie heute noch in die Kopenhagener. Als könne sie hier, im vertrauten Kiez, an ihr Leben wieder anknüpfen. Ihr einstiger Partner lebt immer noch dort, jetzt mit einer anderen Frau. Annika K. steigt dann am S-Bahnhof Schönhauser Allee aus und läuft die Kopenhagener Straße entlang. Wenn das Wetter es zulässt, setzt sie sich auf einen der Spielplätze.

-al-, April 2016