Kiez-Bibliothek: Tucholsky muss nicht in den Schredder

Zeitschrift Prenzlauer Berg Magazin Bötzowkiez
Ehrenamt fürs Kulturgut: Rund 24 000 Bände hat die Kurt-Tucholsky-Bibliothek in ihrem Bestand. Mehrere Tausend sollte sie nach der Berliner Kostenleistungsrechnung aussortieren. Foto: al

Es glich einer schüchternen Guerilla-Ak­tion: Weil das Ausbluten ihres Bestands drohte, rief die Kurt-Tucholsky-Bibliothek ihre Leser zur verstärkten Ausleihe auf. Eine Guerilla-Aktion mit zumindest kleinem Erfolg. Denn eine langfristige Ret­tung für die ehrenamtliche Bücherei ist noch nicht in Sicht.

Seit 2008 ist in der Bibliothek in der Esmarchstraße etwas Ent­schei­dendes anders als in anderen Ber­liner Bibliotheken. Sie wird komplett ehrenamtlich betrieben. Ausleihe, Bera­tung, Leseförderung übernehmen enga­gierte Menschen um den Verein „Pro Kiez“. An 18 Stunden pro Woche ist die Kurt-Tucholsky-Bibliothek geöffnet, gern genutzt von den Kiezbewohnern, viele davon Kinder. 2000 Besucher waren es etwa im Monat Mai, davon elf Schulklassen mit 250 Kindern.
Der Senat mit seinem Prinzip der Kos­tenleistungsrechnung unterscheidet die Ehrenamts-Bücherei jedoch nicht von anderen Berliner Bibliotheken. Wie diese ist sie verpflichtet, jährlich 10 bis 15 Prozent ihres Medienbestandes auszusortieren – die Bücher, die am wenigsten gelesen werden. 4000 sollen es jährlich sein, gerade mal 500 neue Medien kann die Bibliothek aus ihren geringen Mit­teln anschaffen. Auch ohne Leistungs­rechnung ist klar, dass der Gesamt­be­stand von rund 24 000 Bänden bald zusammenschmelzen würde wie Eis in heißer Sommersonne. Und wo keine Bücher mehr, da auch keine Bibliothek.
Mitte Juni drohte das diesjährige Aus­sortieren durchs Bezirksamt, und weil die Bibliothek ihr Verschwinden nicht einfach hinnehmen wollte, startete sie eine stille Guerilla-Aktion: Sie rief ihre Nutzer dazu auf, verstärkt Bücher auszuleihen. Die Idee dahinter: Was nicht in den Bücherregalen steht, kann auch nicht aussortiert werden.
Der Aufruf via email-Verteiler verbreitete sich wie ein Lauffeuer, viele, auch Noch-Nicht-Leser kamen, um das Ansin­nen zu unterstützen. Fanden einen gut gepflegten, neu sortierten Bestand vor – mit dem Namensgeber Tucholsky in einem extra Schrank. Auch dessen Bän­den, ebenso wie Schriften von Goethe oder Schiller, drohte der Schredder – einzige Alternative, falls nicht Leser die Bücher adoptieren.
Dem zuständigen Bezirksstadtrat Torsten Kühne imponierte das Aufbegehren der Engagierten. Er pfiff die professionellen Bibliothekarinnen, die Alt von Neu trennen sollten,  zurück. Der Bestand ist gerettet, vorerst.
So ging zunächst auch ein Aufatmen durch die Bibliothek. Doch wie es künftig weitergeht, ist ungewiss. „Wir möchten eine Arbeitsgrundlage, die unseren besonderen Status berücksichtigt, und uns nicht Eins zu Eins mit den Profis misst,“ beschreibt Uta Egerer, die stellvertretende Vereinsvorsitzende, wie es weiter gehen kann. Dazu gehört aus Sicht des Bibliotheksvereins auch, dass sich Medienabgänge und Neuanschaf­fungen die Waage halten müssen.   
Der Akt des Aufbegehrens war auch ein Akt ganz besonderer Mitbestimmung: Indem die Nutzer zu bestimmten Auto­rinnen und Autoren griffen, sicherten sie deren Verbleib. „Die Bibliotheks­benutzer wollen Freud und Fromm, Goethe, Böll, Camus, Dostojewski und Brecht, die Grundlagenwerke der Ge­schichte, Philosophie und der Natur­wissenschaften in ihrer Bibliothek finden.“, zog der Verein ein erleichtertes Fazit.
Wer mal wieder Bücher ausleihen möchte: http://prokiez.wordpress.com/kurt-tucholsky-bibliothek/
✒ -al- (Juli 2013)