29. September. Ein Drachen am Himmel mokiert sich über das Flugzeug aus Tegel, weil es irgendwo hin muss. „Der sollte sich einfach mal treiben lassen!“, empfiehlt der gut gelaunte
Überflieger. „Das Glück hängt an der langen Leine! Es hat sowieso immer ein Anderer in der Hand.“
Ich stimme ihm zu, dass heute ein guter Tag zum Drachensteigen, Späße treiben und daheim bleiben sei. Ich gehöre eh zu den Unentschlossenen. Für ein Reiseziel kann ich mich schlecht entscheiden.
Wenn ich in den Mauerpark gehe, liegt mir gleich die ganze Welt zu Füßen. Gerade eben erst habe ich mir auf dem Trödelmarkt meine Lederstiefel von einem Wessi polieren lassen. Nach getaner Arbeit
kaufte ich dem Niedersachsen gütig eine Dose seiner Göttlichen Lederpflege ab. Ein Ghanaer verkaufte mir seine handgenähte Tasche zum halben Preis, „weil du bis' Berlin wie ick!“. Er nähe gern
für Berliner; sein Label heißt Born to Live - Berlin. In die neu erworbene Tasche steckte ich Handy, Schlüssel, Portemonnaie und Terminkalender, zog den Reißverschluss fest zu und erstickte all'
meine wertvollen Sorgen in der samtenen Wärme Ghanas. Hinter mir nickt die Schau-kel. Sie hat zugeschaut.
Mittlerweile hat sich vor uns ein Australier mit Pferdekopf aufgebaut. Er spielt auf seiner E-Gitarre mit herunter gelassener Hose „Highway to hell“. Nach dem ersten Song verschwindet fast die
vollständige Flasche Sternburg Export in seinem langen Pferderachen. „Nichts zu machen!“, sagt der Drachen. „Da kann man ja nur lachen!“, ruft die Schaukel und fängt an zu quietschen. Eine ältere
Frau tippt dem nackten Gitarristen während des zweiten Songs auf die Schulter und erkundigt sich, was er da tue. Er hört auf zu spielen, nimmt seine Maske ab und antwortet brav: „I came here to
make a film about „what's it like to live the life of a street musicain“, but i lost my camera.“ Dann hält der Junge ein Pappschild mit seinem Facebook-Namen in die verloren gegangene Kamera: The
Neigh-Kid Horse. Es hagelt Applaus und Gelächter. Nur die alte Frau versteht nichts und fragt sich besorgt: „Was ist eigentlich mit den Australiern los? Sie spielen alle Gitarre, hören Rockmusik
und nutzen jede Gelegenheit, sich auszuziehen. Sie haben keine Haare auf der Brust, aber dafür eine Menge Albernheiten im Sinn... und immer ein Bier in der Hand. Ob das die Verbrechergene
sind?“ Bevor mir eine Antwort einfällt, kontert die Schaukel mit einem schauen Spruch: „Da sprechen wohl die Nazi-Gene!“ Sie ist offensichtlich stolz, kein Mensch zu sein. Der Drachen drängt
darauf, den Himmel nicht für Telegenese zu nutzen, er kriege kaum noch Luft. Kaum haben wir die verwirrte Rentnerin verabschiedet, löst sie sich in tausend Teile auf und ertränkt The Neigh-Kid
Horse in einen Konfettiregen. Der Australier wiehert, der Drachen lacht, die Schaukel quietscht und ich bemitleide das Flugzeug, weil es irgendwo hin muss.
✒ Johanna Sailer (Okt 2014)
primatberlin.wordpress.com